Die Heimzeit ist eine Zeit für mich, über die ich wenig nachdenke. Sicherlich wäre mein Leben anders verlaufen, wäre ich nicht dort gewesen. Es gibt Dinge, die so oder so ähnlich nicht geschehen wären, Dinge, Erinnerungen auf die ich auch nicht verzichten möchte. Im Allgemeinen aber war sie nicht so, dass ich darauf bestanden hätte, sie wiederholen zu dürfen. Sehr viele negative Eindrücke trüben auch jetzt noch das Licht. Und es lohnt sich noch nicht einmal, darüber nachzudenken. Vielleicht ist es auch gar nicht so wichtig für mich, darüber nachzudenken. Es ist vorbei und ich habe es als einen Teil meines Lebens akzeptieren müssen.

Einen Erzieher aus meiner Gruppe, Herr M., mochte ich ganz gut leiden. Ich wurde ihm zugeteilt als „Beobachtungsobjekt“. Er verfasste jährliche Berichte über meine Entwicklung im Heim für das Jugendamt, war persönlicher Betreuer von mir. Das Gefühl des Mögens beruhte auf Gegenseitigkeit. Anfangs habe ich mich ihm freiwillig anvertraut, später ging es mir auf den Keks, dass ich sein Lieblingskind war. Das hatte nämlich zur Folge, das er der Meinung war, er müsse sich mit mir Stunden hinsetzen und Probleme ausdiskutieren, wo für mich keine waren. Allerdings war er der einzige, der zuhören konnte, helfen wollte und uns fair behandelte.

Auch ihm war nicht entgangen, wie sehr ich unter der Trennung zu Doreen litt. Er machte das Unmögliche möglich. Ich durfte mit ihm zusammen endlich meine Schwester besuchen fahren. Das gestaltete sich etwas schwieriger als wir dachten. Das Heim in Kobitzschwalde lag einige Kilometer außerhalb von Plauen. Mit dem Bus war dieser Ort ohne weiteres zu erreichen, wenn ein Bus fuhr. Pech für uns, dass es am Tag nur drei Busse gab, die dorthin fuhren. So blieb uns nichts anderes übrig als zu laufen.

Endlich dort angekommen fielen wir uns in die Arme. Die anderthalb Jahre, die wir uns nicht gesehen hatten, schmolzen dahin und ich hatte endlich Doreen wieder. Man erlaubte Herrn M., dass wir Doreen und Thomas zu einem Spaziergang mitnehmen durften. In einem kleinem Wäldchen balancierten wir über gefällte Baumstämme. Bei einem Picknick auf einer noch nicht richtig grünen Wiese suchten Doreen und Thomas nach den Ostergeschenken, die ich mitgebracht hatte. Durch das Fernglas von Herr M. konnten wir die ganze Gegend bewundern. Und die Welt war in Ordnung. Thomas hatte sich kaum verändert, Doreen hingegen war größer geworden, hatte kurze Haare und keine Locken mehr. Aber noch immer so, wie ich sie in Erinnerung hatte.

Einer meiner schlimmsten Momente im Leben war der Abschied von Doreen. Dieses Bild sehe ich heute noch vor Augen, wie sie und Thomas am Tor standen, als wir gehen mussten. Doreen in ihrer Latzhose stand da und hat bitterlich geweint. Es hat mir fast das Herz zerrissen und auch ich habe auf dem Heimweg die ganze Zeit geweint. Selbst die beruhigenden Worte von Herr M. konnten den Schleier der Traurigkeit nicht durchdringen.

Aber er hat erreicht, dass ich ein weiteres Mal zu Doreen´s Geburtstag nach Kobitzschwalde fahren durfte. Auch dieser Abschied war schwer, aber da wusste ich bereits, dass ich Doreen bald wieder haben würde. Herr M. hatte sich dafür eingesetzt, dass Doreen in das Heim kommen sollte, in dem auch ich war. Die Umverlegung in ein anderes Heim wäre sowieso erfolgt, da Kobitzschwalde nur ein Vorschulheim war und Doreen jetzt 7 Jahre alt war, so alt, dass sie bald eine Schule besuchen würde.

In dem vergangenen Jahr war ich das erste Mal richtig im Urlaub mit Familie V. Schon ab den Maiferien durfte ich alle duzen. Dieses Jahr hatten wir schon einen Kurzurlaub in Carlsfeld mit Christine, Arno, Oma Gerlinde und Arno´s Cousin Martin gemacht. Es war ziemlich kalt, das entschädigte aber für die Aussicht, im Hochsommer nach Kühlungsborn zu fahren. Leider wurde daraus nichts. Drei Tage vor der Abfahrt hatte ich mächtig durcheinander gegessen, und alle meinten nun, dass ich eine Magenverstimmung habe. Dem war nicht so, wie sich noch in der Nacht, als mich der Krankenwagen abholte, herausstellte. In einer sofortigen OP wurde mir der Blinddarm entnommen. Das hieß statt 14 Tage Urlaub 10 Tage Krankenhausaufenthalt bei schönsten Wetter.

Doreen und Thomas waren in den Ferien nach Hause beurlaubt worden. Am Sonntag nach meiner Entlassung kam Hanna mich mit den beiden besuchen. Petra, Christines Schwester, hatte einstweilen die Pflege für mich übernommen, solange bis die anderen aus dem Urlaub zurück waren. Alle zusammen machten wir einen Spaziergang durch den Gründelpark. Natürlich ließen wir es uns nicht nehmen auch Boot zu fahren, was nicht ganz ohne Folgen für mich blieb, weil meine frische Narbe wieder aufging.

Es war ein sonniger Tag und der letzte, den wir 3 Geschwister zusammen verbrachten. Thomas´ weiteren Weg durch die Einrichtungen des Jugendamtes habe ich nicht mehr mitverfolgt. Es war nicht so wichtig für mich, da ich zu meinen Brüdern nicht den richtigen Draht hatte.

Wichtig war mir nur, was mit Doreen passierte. Endlich war es soweit, dass wir uns wieder hatten. Leider kam sie nicht in die selbe Gruppe wie ich, da die Gruppen nach Alter eingeteilt waren. Das störte mich aber nicht, Doreen war jetzt da und ich konnte sie jeden Tag sehen. Außerdem hatte sie mit einem gleichaltrigen Mädchen das Zimmer neben mir bekommen, welches ich mit einer Freundin teilte. Das lange Warten hatte sich gelohnt und es war schon fast wieder so, als wären wir niemals getrennt gewesen. Sie malte vor dem zu Bett gehen und ich las ihr eine Geschichte vor. Manchmal schrieben wir einen Brief an Hanna, das heißt ich schrieb und Doreen malte. Hanna war froh, dass wir beide doch wieder zueinander gefunden hatten. Und wenn sie nun kam, warteten bereits 2 Kinder auf sie und freuten sich mit ihr.