September 1988: Für mich begann ein neuer Abschnitt meines Lebens. Ich wurde am Institut für Lehrerbildung Altenburg für ein 4jähriges Studium immatrikuliert. Ausbildungsinhalte waren nicht nur die Ausbildung zum Heimerzieher, sondern auch die Unterrichtsbefähigung im Grundschulbereich und jede Menge Praktika in entsprechenden Einrichtungen.

Mein zweites Studienjahr hatte begonnen, die politischen Verhältnisse waren im starken Wandel begriffen. Angesetzt waren für das zweite Studienjahr ein 6-wöchiges Praktikum in einem Heim und ein 2-wöchiges Praktikum auf dem Jugendamt. Anfang Januar trat ich mein Praktikum beim Jugendamt in Glauchau an, schließlich war dies die einfachste Lösung, brauchte ich dann nicht jeden Morgen nach Altenburg fahren. Manchmal gibt es im Leben komische Zufälle und das verstärkt meine Ansicht, dass man sich wohl doch immer zweimal im Leben trifft. Mein Mentor war mein ehemaliger Betreuer, der mir zu Heimzeiten vom Jugendamt an die Seite gestellt wurde. Er kannte meine ganze Geschichte und fand es gut, dass nun auch ich den richtigen Weg gehen würde. Kurz bevor mein Praktikum zu Ende ging, nannte er mir den Ort, in dem Doreen seit ihrer Adoption wohnen sollte – Thalheim. Dieses Wissen stärkte mich. Obgleich meine sogenannten Eltern biologischer Herkunft mich immer versucht hatten auszuquetschen, wo Doreen sein könnte, hielt ich dicht und führte sie absichtlich auf falsche Fährten. Ich verstritt mich sogar mit meiner Oma, zu der ich immer ein super Verhältnis hatte, nur weil sie nicht verstehen wollte, dass ich dieser Sippe nicht helfen konnte. Wir hatten uns nicht ausgesöhnt. Als sie 1998 im April starb, konnte ich nichts gegen die Gewissensbisse tun.

Mit dieser neuen Information ging ich zu Herrn M., den ich jetzt duzte und ihn Falk nennen durfte. Wir hatten nicht oft Kontakt, war ich schließlich  jetzt auch in einer anderen Position als im Heim. Und noch immer verband uns die Geschichte um Doreen. Falk kann in solchen Dingen recht spontan reagieren und so verwunderte es mich nicht, dass er mich ins Auto lud und wir zusammen nach Thalheim fuhren. Thalheim ist keine sehr große Stadt, aber ohne einen Anhaltspunkt ist es trotzdem nicht einfach, dort jemanden zu finden. Glück im Unglück war die Briefträgerin, die sich offensichtlich gut aus kannte und die mit den wenigen Informationen, die wir besaßen etwas anfangen konnte. Den Namen der Familie M. kannte ich bereits aus der Zeit, in der Doreen dorthin beurlaubt wurde und mit dem Hinweis eines Fotogeschäftes fanden wir recht schnell, was wir suchten. Name und Anschrift von Doreens Eltern und den Arbeitsort ihrer Mutter.

Ich wollte nicht sofort mit der Tür ins Haus fallen, deshalb schrieb ich den Eltern von Doreen einen Brief und erklärte ihnen darin, dass ich keine bösen Absichten hätte,  versuchte ihnen beizubringen, wie wichtig mir der Kontakt zu Doreen ist. Doreen war damals 11 einhalb Jahre alt und durfte noch nicht selbst entscheiden, was sie wollte. Nach einer geraumen Zeit, die verstrichen war, in der ich keine Antwort auf den Brief erhielt fuhr ich mit Falk erneut dahin. Im Geschäft trafen wir niemanden an und so fuhren wir die Straße hinauf, die oben am Waldrand endete und nur ein paar Häuser weiter unten war Doreen zuhause. Die Chance, Doreen sehen zu können, lag zum greifen nahe. Wir stiegen die Treppe hinauf und klingelten. Heraus kam eine kleine Frau, die wie ich annehmen musste ihre Mutter war. Noch ehe ich richtig Luft holen konnte, um mein Anliegen vorzutragen, ergoss sich über mich ein Schwall von Worten. Sie wüsste, wer ich sei und ich solle mir keine Hoffnungen machen, da ich aus dem Leben kam, aus dem sie Doreen „errettet“ glaubten. Sie erzählte mir in schneller Abfolge, wie froh sie sei, dass Doreen sich so gut entwickelt hatte, nur allerbeste Noten in der Schule schrieb und nachts nicht mehr weinen würde. Sie prangerte mich an, mich niemals um Doreen gekümmert zu haben und das ich mein Recht auf Umgang damit verwirkt hätte. Das alles geschah in nur wenigen Minuten und ich stand völlig reglos da und brachte vor Entsetzen kein Wort heraus. Danach viel die Tür ins Schloss und sollte für immer geschlossen bleiben. Auch ich kannte die Gesetzte und wusste, dass ich nichts dagegen würde tun können.

Sie lehnten den Kontakt nicht nur ab, sie setzten sich außerdem mit dem Jugendamt in Verbindung und untersagten mir darüber jeglichen Kontakt mit ihr. Eine Welle kam in Bewegung. Wut, Enttäuschung, Traurigkeit verfolgten mich und trieben mich zu neuerlichen Taten. Einmal angestachelt von so viel Ignoranz und haltlosen Beschuldigungen machte ich mich auf die Suche nach den „Schuldigen“. Die politische Lage hatte sich enorm geändert. Die Grenzen waren plötzlich offen, Stasileute wurden aufgestöbert und enttarnt, Akten durften plötzlich eingesehen werden, die vorher unzugänglich aufbewahrt wurden und Verantwortliche wurden ihrer Posten enthoben, um darauf Neue zu setzen, die diesen Stuhl würdiger vertreten sollten. Die Frau, die früher die Heimleitung hatte, wurde suspendiert. Der Jugendamtsvorsitzende wurde ebenfalls einen Kopf kürzer gemacht. Gesetze waren noch immer Gesetze, aber manche änderten sich auch.

Ich sprach mit Frau P., der ehemaligen Heimleiterin. Sie berichtete mir, dass sie zur Zeit von Doreens Adoption auch nur eine Marionette war und tun musste, was das Jugendamt und Frau H. (stellv. Heimleitung) angekurbelt hatten. Dies bestätigte mir auch der Betreuer vom Jugendamt, der für Doreen zuständig war. Die staatsgetreue Frau H. entpuppte sich dabei als eine sehr aktive Mitarbeiterin einer großen Organisation. Die Rechtslage bei Adoptionen hat sich auch mit der politischen Wende nicht verändert. Nach allgemeinen Gesetzen hätte Doreen nach so kurzer Zeit gar nicht adoptiert werden dürfen. Die DDR-Gesetze besagten, dass ein Kind mindestens ein Jahr lang in einer Familie leben musste, bevor es adoptiert werden durfte. Davor war lediglich eine Pflegschaft oder eine Vormundschaft möglich. Die wiederum gab den „werdenden“ Eltern aber nicht die volle Befugnis über ein Kind wie bei einem leiblichen. Doreen kannte ihre neuen Eltern gerade mal 5 Monate und war nur in den Ferien bei ihnen. Dazu kam, dass man Mutter das Sorgerecht entzog und Doreen zwangsweise zur Adoption freigegeben wurde ohne Revision. Auch bei mir wurde der Antrag auf Vormundschaft gestellt, aber Mutter bekam das Sorgerecht nach einer Klage zurück. Ich sprach auch mit Frau H., die leider immer noch in Amt und Würden schien und stellte verblüfft fest, dass sie die selben Ausdrücke und Aussagen gebrauchte wie Doreens Mutter. Das hielt ich ihr auch vor und wusste nun, woher all diese Lügen stammten. Offensichtlich hatte ich damit wohl in ein Wespennest gestochen und es kam sogar soweit, dass sie mich hinaus warf und mir Hausverbot erteilte. Wie sich noch heraus stellen sollte, gab es einen verwandtschaftlichen Grad zwischen den Adoptiveltern von Doreen und der stellvertretenden Heimleiterin Frau H. Kein Wunder also, wenn sogar sogenannte Erziehungsberichte ans Jugendamt aus persönlichen Gründen negativ verfälscht wurden.

Die Zwangsadoption von Doreen schaffte es sogar bis in die Bild-Zeitung. Von so viel Rummel und Öffentlichkeit hielt ich nicht viel, denn es wäre Doreen niemals zuzumuten gewesen, in ihre Herkunftsfamilie zurück zu gehen. Aufgeschreckt von meinem Besuch und dem Klatsch aus der Presse wurde ein neuer Termin beim Jugendamt anberaumt, bei dem wohl verschiedene Dinge geklärt werden sollten. Doreen kam zu diesen Termin auch, ich konnte sie leider nur von weitem sehen, da ich zu diesem Spektakulum nicht geladen worden war. Sie war sehr dünn, hatte jetzt wieder lange, von weitem wellige Haare und schien noch immer sehr zerbrechlich. Damals war sie 12 und ich habe sie seitdem nicht mehr wieder gesehen.