Nun war die Zeit für das Weihnachtsfest gekommen und ich wusste bereits von den anderen, dass das Heim in dieser Zeit geschlossen wird, wenn nicht mehr als ein, zwei Kinder übrig blieben, die aus irgendwelchen Gründen nicht nach Hause durften. Natürlich hoffte ich auch, dass ich nun endlich wieder mal nach draußen käme, wurde ich doch die letzten Monate eher wie ein kleines Kind beaufsichtigt. Zu Hause war es egal, ob ich da war oder nicht. Es störte ohnehin niemand und es hatte auch niemanden interessiert, wo ich war und wann ich wieder kommen würde.

Am letzten Tag Schule, als die anderen nach und nach abgeholt worden, wusste ich nicht, was aus mir werden sollte. Keiner hatte sich irgendwie geäußert. Dann war es auch für mich so weit. Frau P.  ließ mich in ihr Zimmer kommen, um mir mitzuteilen, dass ich nicht nach Hause gehen würde. Stattdessen sollte ich in eine Familie V. Das einzige, was ich darüber wusste war, das Frau V. meine Kunsterziehungslehrerin war und sie war ziemlich dick und respekteinflößend. Um diesen Schock zu verdauen, blieb mir kaum Zeit, denn eine halbe Stunde später wurde ich bereits abgeholt. Sie kam mit einem jungen Mann, von dem ich schnell erfuhr, dass er der Bruder von ihr war und Ralf hieß. Er nahm mir meine Tasche ab und wir liefen los. Den Berg runter, über ein Wehr, den Weg vor, rechts rum und noch mal links rum und schon waren wir da. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Eine kleine Reihenhaussiedlung irgendwo in Glauchau. Auf dem Weg dorthin hatte ich nicht viel zu erzählen, die Zerstreuung übernahmen meine Begleiter. Klar wurde mir zumindest, das es vielleicht doch nicht so schlimm werden würde, wie ich es mir vorgestellt hatte, denn ihre Unterhaltung war äußert angenehm und lustig.

Begrüßt wurde ich außer von Christine, wie ich sie später nennen durfte und Claus, ihrem Mann noch von einem gleichaltrigen Sohn Sven und einem anderthalb Jahre altem Sohn Arno, der Mutter von Claus Oma Frieda und einem Kater Basti. Für mich war das eine sehr schöne Zeit, die sich so ganz von dem Leben im Heim unterschied. Es war eine richtige Familie, wie ich sie nicht kannte. Schnell hatte ich mich mit Sven, aber vor allem mit Arno angefreundet, mich automatisch den alltäglichen Dingen angepasst. Ich spielte mit Arno und lernte in dieser doch recht kurzen Zeit sogar das Sticken. Mit Tränen in den Augen kam ich Neujahr zurück ins Heim und hoffte für mich, dass ich doch hätte dort bleiben können.

Doch die Realität holte mich schneller ein, als ich wahr haben wollte. Als ich ins Heim kam, hatte ich schulterlange Haare. Weil dies aber im Heim unüblich war und alle kurze Haare hatten, ereilte auch mich dieses Schicksal. Man machte mir einen Termin beim Friseur, hatte mir aber vergessen zu sagen, dass dies ein Herrenfriseur war. Und so sah ich hinterher auch aus. Mit einem kurzgeschnittenen Bubikopf kam ich wieder und habe mich so geschämt, damit in die Schule zu gehen. Schließlich waren wir doch ein Kollektiv, und da kann es nicht sein, dass einer anders ist. Individualität ist verboten.

Die einzigen Dinge, die mir die Kraft gaben, die ich so dringend brauchte, waren die Briefe mit den gemalten Bildern von Doreen, Hanna, die mich regelmäßig besuchte und die Aussicht, in den Ferien wieder zur Familie V.  zu dürfen. Denn ich wusste jetzt, dass sie mich mochten und dass ich wieder kommen durfte.

Dieses erste Jahr war sehr prägend für mich. Ich wurde weiterhin nicht nach Hause beurlaubt, denn die Zustände aus denen man uns rausgenommen hatte, waren seitdem nicht besser geworden. Und nicht nur das Jugendamt kam zu dem Schluss, dass meine Eltern uns gar nicht wieder haben wollten. Irgendwann bekam ich auch diese Vermutung und es störte mich nicht einmal, hatte ich doch eine Familie gefunden, die sich wirklich um mich kümmerte und mich lieb hatte. Ich bekam immer das Gefühl, dort willkommen zu sein und als ein Teil von ihnen akzeptiert zu werden. Besonders schwer fiel es mir, mich von Arno zu trennen. Heute sind wir Geschwister. Ich bin seine Schwester und er ist mein Bruder. Arno war am Anfang Ersatz für Doreen. Es fiel mir auch nicht schwer, er war noch klein und völlig unvoreingenommen. Das machte es mir um vieles einfacher. Arno ist immer in dem Bewusstsein groß geworden, das ich nicht wirklich zur Familie gehörte und dass ich nach der Beurlaubung zurück ins Heim ging. Dennoch sind wir zusammen gewachsen, als das, was wir biologisch gar nicht sind. Hanna war immer meine Verbindung zwischen altem und neuem Leben. Sie war da, wann immer ich sie brauchte, uneigennützig und neutral von dem Leben in Meerane. Nur Doreen fehlte noch in meinem Leben.