Ich freute mich, nach Hause zu kommen, um endlich meine Schwester sehen zu können. Sie war so klein, fast zerbrechlich, aber das war ja auch kein Wunder, da sie 2 Monate zu zeitig das Licht der Welt erblickt hatte. Wäre sie zur richtigen Zeit gekommen, hätte sie fast mit mir Geburtstag gehabt. Schade eigentlich. Aber sie wuchs schnell und entwickelte sich in kürzester Zeit zu einem kerngesunden und runden Baby. Die Freude über Doreen wurde leider dadurch getrübt, dass Vater diesem Unrechtsstaat eine Amnestie verdankte, die ihn nach nur einem Jahr freisprach, womit ich ein ganzes Leben lang klar kommen musste.

Wir alle bekamen irgendwelche Spitznamen, die meist in Zusammenhang mit unseren Äußeren standen. Roy war die Spinne, weil er als kleines Kind so dünne Arme und Beine hatte, dass er einem Weberknecht Konkurrenz machen konnte. Ich war das Suppenhuhn, an mir war auch nicht mehr dran. Er meinte immer, wenn man mich in eine Suppe würfe, würde nicht mal ein Fettauge darauf schwimmen. Doreen bekam ihren Namen durch ihr Verhalten.

Eine Wickelkombi gab es nicht, und so wurde sie auf dem ganz normalen Esstisch gewindelt. Immer dann wenn die Windel ab kam, gab es für Doreen kein Halten mehr. Sie stemmte sich mit ihren kleinen Füßchen vom Tisch ab und rutschte so ein ganzes Stück weiter. Nie konnte man sie allein lassen, weil sie sonst möglicherweise vom Tisch gefallen wäre. Die Bewegungen, die sie machte, ähnelten eher einem Grashüpfer. Und weil sie zudem grüne Augen hatte, bekam sie den Namen: Grille. Ich fand unsere Namen ziemlich albern, aber wir kamen nicht umhin, dass wir trotz allem so gerufen wurden.

Beruhigend fand ich die Tatsache, dass Doreen sowie auch Thomas in dem Schlafzimmer Mutters schliefen, das außerdem eine Etage weiter unten war, als unser Schlafbereich. So wusste ich Doreen in Sicherheit. Da sie auch tagsüber oft in ihrem Gitterbettchen lag, ging ich immer wieder zu ihr, nahm sie aus dem Bett und trug sie mit mir rum. Hanna schimpfte immer mit mir, ich solle sie nicht immer schleppen, dass wäre nicht gut für meinen Rücken. Es störte mich nicht, solange ich mit ihr zusammen sein konnte. Ungefähr um ihren 1. Geburtstag wäre dies bald schief gegangen. Doreen hatte ziemlich an Gewicht zugelegt, und ich selbst war mit 8 Jahren immer noch ziemlich wenig. Ich trug sie wieder, obwohl sie schon Anstalten machte, zu laufen. Dabei verfehlte ich die erste Stufe und wir fielen beide die Treppe hinunter. Unten angekommen tat mir alles weh und ich hatte noch eine Zeit lang ganz schön blaue Flecke. Aber ich hatte Doreen immer noch umklammert und sie schrie nicht einmal. Vielleicht war es der Schock, vielleicht hatte sie sich aber auch wirklich nicht weh getan, weil ich meinen Körper instinktiv um ihren gelegt hatte. Als wir danach zu Hanna hinein gingen, war ihr einziger Kommentar, sie hätte mir schon hundertmal gesagt, ich solle die Treppen nicht so runter rennen. Ich habe mir nicht getraut zu sagen, dass wir gefallen waren, denn schließlich sollte ich meine Schwester ja auch nicht tragen.

Im Februar ´80 wurde ich mit einer starkfiebernden Angina ins Krankenhaus eingeliefert. Trotz des hohen Fiebers, dass ich bereits den ganzen Tag hatte, habe ich darauf bestanden zu einer Theateraufführung mitzufahren. Auftreten konnte ich nicht, aber die Folgen waren spürbar gewesen. Mit 41,8°C landete ich schließlich am Freitag Nachmittag  in der Kinderklinik. Nur drei Tage vergingen als die Tür sich öffnete und ein kleines Mädchen im Gitterbettchen hereingebracht wurde. Doreen hatte sich eine Lungenentzündung geholt und war mir quasi ins Krankenhaus gefolgt. Man legte sie gleich neben mich und ich war natürlich froh, nicht mehr allein dort sein zu müssen. Hanna besuchte uns und brachte uns Leckereien mit. Nach einer Woche durfte ich das Krankenhaus verlassen. Ich bin nur ungern gegangen, denn ich durfte Doreen in den darauf folgenden 2 Monaten nicht sehen. Das sollten wohl Maßnahmen sein, damit keine Viren von draußen ins Krankenhaus gelangten. Nur eine Glasscheibe erlaubte einen Blick in das Zimmer, in dem meine Schwester lag. Sie sah so unglücklich aus in ihrem kleinen Gitterbett.

Wie zu dieser Zeit üblich, gingen selbst die kleinsten schon in die Kinderkrippe. Thomas und Doreen kamen in eine Kinderkrippe, welche nicht sehr weit weg war von zu Hause. Immer nur den Berg hinauf. Doreen entwickelte sich prächtig. Bald war der Babyspeck verschwunden und aus den Flusen auf dem Kopf wurden niedliche kleine dunkelblonde Löckchen. Strahlende Kinderaugen ließen sie manchmal einem Engel ähneln. Aus dieser Zeit existieren nur zwei Fotos, in dessen Besitz ich nachträglich gelangt war. Eines davon ließ ich später reproduzieren und rahmen.

Wie schon einmal erwähnt, gab sich Mutter nicht besonders viele Mühe mit uns, waren wir doch schon die großen und könnten unseren Teil zum Familienfrieden beitragen. Als meine beiden kleinen Geschwister in den Kindergarten kamen, oblag mir die tägliche Aufgabe, sie nachmittags wieder abzuholen. Nur mit dem kleinem Unterschied, das beide in zwei verschiedenen Kindereinrichtungen am anderen Ende der Stadt untergebracht waren. Mutter brachte sie früh hin, damit war ihr Teil getan. Also stiefelte ich los, fuhr mit dem Bus bis zum Bahnhof und von dort durch die Unterführung zum Kindergarten. Da Thomas und Doreen nur ein Jahr auseinander waren, hatte man einen Zwillingskinderwagen gekauft, bei dem sich die Kinder gegenüber saßen. Keine leichte Aufgabe, die Stufen der Unterführung runter und auf der anderen Seite wieder herauf. Aber alles Beschweren stieß nur auf taube Ohren. Ich war die große Schwerster und damit basta. Auf der anderen Seite gab mir dies die Möglichkeit, nicht zu Hause sein zu müssen und ich war mit Doreen zusammen.

Das ließ mich auch solche Momente vergessen, in denen ich meiner Schwester die Ohren zuhielt, damit sie nicht all die Gemeinheiten mitbekam, die sich Vater und Mutter an den Kopf warfen.

Obwohl ich das kleinste Zimmer von allen hatte, war es mein größter Wunsch zum 12. Geburtstag, dass meine Schwester mit in meine Kammer kam. Ich räumte um, um zusätzlichen Platz zu schaffen für Doreen´s Kinderbett. Ich holte mir Einlegebretter aus dem Schrank meiner Brüder, die diese sowie so nicht brauchten, weil nichts darinnen war und baute einen „Schreibtisch“. Nägel in die Wand, Bretter reingeschoben, eine Holzlatte unter die freistehende Ecke und schon hatte ich unseren Tisch fertig. Aus einem Katzenbuch entnahm ich einige Bilder und platzierte sie oberhalb des Tisches. Manchmal, wenn ich etwas länger schlief und Doreen schon aufgestanden war, saß sie dort und malte. Sie malte gern und gut. Sie war noch nicht mal 5 Jahre alt und malte die Buchstaben ihres Namen. Viele Erinnerungen verblassen mit der Zeit, Dinge werden unwichtig, schöne Momente bleiben erhalten. Diese Buchstaben ihres Namens, wie sie so krakelig und mit teilweise spiegelverkehrte Ansicht auf dem Papier standen, blieben als Relikt aus jener Zeit als Erinnerungsbild erhalten.