Was ist Familie? Ein weitreichender Begriff, der sich nicht genau bestimmen lässt. Auf jeden Fall ein Begriff, der sich sehr subjektiv gestaltet, an den jeder Mensch seine ureigenen Gefühle und Erfahrungen anknüpft.

Als ich am 8. September 1971 geboren wurde, standen die Sterne wahrscheinlich ziemlich ungünstig. Vielleicht standen auch gar keine am Himmel, weil es bewölkt war. Das weiß keiner mehr so genau. Ob erwünscht oder unerwünscht, jedenfalls war ich das zweite von insgesamt fünf Kindern und die erste Tochter. Pech für mich, denn als Junge hatte man es in dieser Familie nicht nur leichter, man wurde auch dumm genug geboren, um nicht zu merken und zu denken, wie beschissen das Leben manchmal sein kann.  

Eltern hatte ich auch, leider, vielleicht wären mir viele schlechte Erfahrungen erspart geblieben. Meine Mutter, Gisela, war zu meiner Geburt knapp 28 Jahre alt, mein Vater, Jürgen, 30 Jahre alt. Beide waren Einzelkinder, dennoch mit sehr verschiedenen Elternhäusern. Vater wuchs ziemlich wohlbehütet mit beiden Elternteilen auf. Er hatte stets eine straffe Hand, nämlich die von Opa Walther und eine liebende von Oma Erika. Beide mochten ihren Jungen, war er doch ein liebes, hübsches und intelligentes Kind. Mutter dagegen hatte es doch schwerer. Ihre Mutter, Marianne, eine sehr schöne, aber dumme und faule Frau brachte ihre Tochter Gisela unehelich zur Welt. Den Vater des Kindes kennt heute niemand mehr, bestenfalls Spekulationen über einen Leipziger Meteorologen. Er war klug genug, sich auf eine feste Beziehung mit Marianne nicht einzulassen. Er hätte die Hölle auf Erden gehabt. Ich als ihre Enkelin habe es oft am eigenen Leib erfahren, welch ein Hausdrachen sie war. Von ihren eigenen Eltern verwöhnt, wurde auch Gisela auf diese Weise er- bzw. verzogen. Aber die Gene ihres Vaters konnten sich nicht durchsetzen, und so schaffte sie lediglich die Sonderschule.

Wie und auf welche Weise sich nun meine Eltern kennen lernten und schließlich heirateten, entzieht sich meiner Kenntnis. Im Mai 1969 wurde dann der erste Sohn namens Roy geboren. Seiner Zeit lebten sie in einer 3-Zimmer-Wohnung in einem Hinterhaus auf dem Grundstück, welches Oma Marianne und deren Schwester Hanna ehemals zu gleichen Teilen vererbt bekommen hatten. Es war ein großes Grundstück mit zwei Häusern und einen schönen großen Garten mit Laube.

Im Gegensatz zu Marianne war ihre Schwester Hanna wohlerzogen, tüchtig und gottesgläubig. Nachdem ihre Eltern verstorben waren, gingen Mariannes Zankereien so weit, dass Hanna ihr ihr Erbteil schenkte und sich zurückzog. Zwei Jahre später kam ich an. Die ersten drei Jahre wohnten wir noch in diesem Haus, dann kaufte Tante Hanna ein neues Haus, in das wir einzogen, nachdem  im Februar 1974 ein weiteres Kind geboren wurde. Es war wieder ein Junge, der den Namen Udo bekam.

Die Erinnerungen an die ersten Jahre sind noch sehr wage. Neben uns wohnte eine Familie, die eine kleine Tochter hatten. Wie sie heißt, weiß ich nicht mehr. Aber ich weiß, dass sie zwei Jahre älter war als ich und wir oft bei uns im Garten gespielt haben. Und nicht nur ich habe mit ihr gespielt, sondern mein Vater auch. Wenn niemand da war, hat er sie mit in die Laube genommen und mit ihr komische Spiele gespielt. Diese Spiele hatten ein Ende, denn Vater musste fort, wohin hat man uns Kindern nicht erzählt. Lange war er nicht weg, denn als ich mit 5 Jahren zur Kur nach Zingst fuhr, war er längst wieder da. Ich weiß es deshalb so genau, weil ich mich damals mit Windpocken angesteckt und zu Hause dann den Rest der Familie weitergegeben habe.

Mutter kümmerte sich nur recht selten darum, was wir Kinder den ganzen Tag so trieben. Sie kümmerte sich überhaupt recht wenig um das, was eigentlich ihre Aufgaben waren, wenn man eine Familie hat. Sie ließ ihre Mutter bei uns einziehen,  mit der sie dann die meiste Zeit des Tages in der Stadt bei Kaffee und Kuchen verbrachte, fernsah, schlief oder sich mit ihr oder Vater stritt. Zwei Frauen in einem Haushalt, die beide nichts taten, weder für andere, noch für sich selbst. So sahen sie beide auch aus. Mutter: strähnige, schwarze Haare, die immer auf eine Seite gekämmt und mit einer einfachen Haarnadel festgeklemmt wurden. Dazu ein Gebiss, das eher zu einer 80-jährigen Frau gepasst hätte. Durch die Geburt von drei Kindern auch ziemlich füllig geworden, tat sie nichts, um sich wenigstens ordentlich zu kleiden. Eine alte Kittelschürze, die vor Dreck stand, war so ziemlich das einzige Kleidungsstück, was wir Kinder zu Gesicht bekamen. Ihre Mutter sah nicht anders aus mit ihren zottigen, fettigen Haaren. Ihr Gekeife war weit außerhalb der Wohnung zu hören. Dagegen hatte Vater noch eine gute Erscheinung. Dunkelblondes, dünnes Haar, das von der Stirn aus immer weniger wurde und blaugraue Augen, die ich offenbar von ihm geerbt hatte. Wenn er aus dem Haus ging trug er immer einen Filzhut, einen langen Mantel und schon ziemlich ausgetretene Schuhe.

Unser Haus und unsre Wohnung glichen bald einer Müllhalde. Bergeweise Klamotten ungewaschener Wäsche stapelten sich überall  im ganzen Haus. Dreckiges Geschirr und unansehnliche Fußböden galten als Normalzustand. Als ich größer wurde, übertrug man mir diese Aufgaben, um die sich niemand kümmern wollte. Allerdings erledigte ich sie nur selten und immer unter Protest, da ich nämlich keine Lust hatte, diesen ständigen Müll wegzuputzen.

Schon ziemlich zeitig bekam ich mit, dass blaue Augen und Flecke durch Schläge und fliegendes Geschirr zum täglichen Leben gehörten. Auch wir hatten darunter zu leiden. Von Vater bekam ich recht selten Schläge, aber wenn dann richtig. Schließlich drohte er mir ja immer damit, ich könne dann meinem Kopf 14 Tage hinterher rennen, wenn ich nicht das tat, was er wollte. So fühlte ich mich dann aber auch, denn die Schläge waren hart und gingen immer ins Gesicht. Zwar bezog ich häufig von Mutter Schläge mit einem Schrubber oder einem Teppichausklopfer, aber das störte mich weniger, denn oft war es vergebene Liebesmüh uns Kindern nachzulaufen, zumal wir dann Rückzug auf einem hohen Kleiderschrank nahmen.