Ich besuchte nun die 9. Klasse und Doreen würde in den nächsten Tagen eingeschult werden.

Vor der Schule stand ein Bäumchen mit kleinen Zuckertüten, die die Schulanfänger willkommen hießen. Ihren Schulanfang konnte ich leider nur zu einem Bruchteil miterleben. Nach der Zuckertütenübergabe gingen wir mit Hanna und Herrn M. noch Essen. Dann nahm er sie zur Feier mit zu sich nach Hause, weil sein Neffe Patrick ebenfalls Schulanfang feierte. Doch Doreen schien nicht unglücklich zu sein, als sie wieder kam. Auch sie hatte zum ersten Mal erlebt, was es heißt, in einer richtigen Familie zu sein. Mein Geschenk bekam sie in der darauffolgenden Woche. Ich kaufte ihr vom Taschengeld ein Paar rot- goldene Ohrringe in Form von kleinen Marienkäfern und ließ sie bei einem Arzt durchstechen. Und wenn Doreen immer Ohrringe getragen hat, dann hat sie heute noch immer ein kleines Andenken an mich. Es wird ihr vielleicht nicht bewusst sein, aber ich weiß es. Entgegen späterer Behauptungen war es mir eine Freude, mich um Doreen zu kümmern. Zu ihren Terminen beim Augenarzt musste kein Erzieher mitgehen, denn das tat ich gern, konnten wir doch hinterher immer noch ein bisschen bummeln oder Eis essen gehen. Später erfuhr ich, dass Doreen den selben Augenfehler hat: Stigmatismus am linken Auge. Bei ihr war es kurioser Weise genau anders herum. Ich schielte nach außen und sie nach innen. Und da wir alle beide eine Brille hatten, den gleichen Nachnamen und beide in die selbe Schule gingen, hießen wir irgendwann nur noch „die kleine und die große Bu“.

Früh nahm ich Doreen selbst mit in die Schule. Da ich aber immer mehr Stunden als sie hatte, sahen wir uns nachmittags erst ziemlich spät. Und wenn dann noch ein sehr witziger Erzieher eine ach so wichtige Aufgabe für einen hatte, war es Abend, bevor wir uns das erste mal am Tage sahen. Aber der Abend gehörte uns so lange bis sie ins Bett musste. Routine ja, Einerlei nein. Ich ging bereits 14-tägig in die Beurlaubung zu Familie V. und in den Ferien auch. Doreen blieb an den Wochenenden im Heim oder wurde nach Hause beurlaubt. Manchmal wünschte ich mir, Familie V. hätte Doreen auch noch aufnehmen können, aber das ging nicht. Oma Frieda lebte noch im Haus und es gab nur ein Kinderzimmer. Da Sven und ich bereits 15 Jahre alt waren und uns Claus und Christine nicht in einem Zimmer schlafen lassen wollten, schlief ich in ihrem Zimmer, so wie Arno auch. Es war einfach kein Platz mehr und so konnte ich vergessen, dass sie Doreen auch noch aufnehmen würden. Doreen wurde zu Weihnachten nicht wie üblich nach Hause beurlaubt, sondern sie ging abermals zu Herrn M. Zusammen mit seinen Eltern verbrachte sie eine schöne Zeit dort. Doch dies sollte nicht für die Zukunft so bleiben. Seine Mutter hätte sie gern aufgenommen, war aber für das Jugendamt zu alt. Eine Lösung, mit der wir alle gut gelebt hätten.

Kurz vor Weihnachten lernte ich meine große Liebe Michael kennen. Außer in der Schule sahen wir uns regelmäßig am Wochenende. Aller 14 Tage etwas länger, denn an den dazwischenliegenden Wochenenden hatten wir ganze 3 Stunden „Ausgang“ am Sonntag. Gelegentlich durfte ich Doreen mitnehmen und dann machten wir uns zu dritt einen schönen Nachmittag. Zu seiner Mutter habe ich heute noch sporadisch Kontakt und wir verstehen uns nach wie vor. Manchmal fragt sie mich nach Doreen, aber die Antwort ist immer die gleiche: Ich weiß es nicht!

Wenn man Doreen sah, musste man sie einfach lieb haben. Sie war lieb und gleichzeitig aufgeweckt, sie war sehr klug und malte gern und ihr Haar war wieder etwas länger geworden, auch wenn die Locken spürbar abgenommen hatten. Und sie war das perfekte Kind, um sich in einer anderen Familie zurecht zu finden. Diese andere Familie ließ nicht lange auf sich warten, obwohl wir in dem Heim an die 40 Kinder waren, die zum Teil auch nichts mehr mit ihren Ursprungsfamilien zu tun hatten, war sie es, die man haben wollte. Für mich war es damals einfach gut, denn endlich sollte es Doreen so gut haben wie ich. So wie ich bekam auch sie die Chance im Leben, sich einmal richtig wohl zu fühlen und geliebt zu werden. Als sie nach diesem „Urlaub“ wiederkam quoll sie förmlich über mit dem, was sie zu sagen hatte. All die Dinge, die sie erlebt, gehört oder gesehen hatte. Ihre „Mutti“, wie sie sie bereits schon nach kurzer Zeit nannte, war Fotografin in einem Geschäft und Doreen durfte sie auf Arbeit begleiten. Sie erzählte auch, dass die Familie einen großen Sohn hatte und dass einer mit 18 Jahren tödlich verunglückt wäre. Was aber genaue Daten nach Familienname und Wohnort anbelangte, hielt sie sich auffallend zurück. Nicht anders war es, wenn Doreen am Wochenende oder in den Ferien dort war. Anders war nur, dass sie stiller und in sich gekehrter wurde. Vor den großen Sommerferien erzählte sie kaum mehr etwas über diese Familie, wenn man sie danach fragte. Hanna äußerte später einmal, dass dies reine Absicht war, mit dem Gedanken einer späteren Adoption wolle man keinen Ärger mit irgendwelchen Verwandten. Meine Theorie weicht nicht sehr von ihrer Meinung ab, nur gehe ich noch einen Schritt weiter. Ich glaube, dass man sie darauf abgerichtet hatte, nichts zu erzählen, möglicherweise mit dem Versprechen einer Adoption. Alles schien zu perfekt gewesen zu sein und die Dinge, die ich später noch erfahren sollte, lassen geradezu nur diesen einen Schluss zu. Das letzte Geschenk, dass sie bekam bevor sie ging, war ein roter Puppenwagen von Hanna. Den hatte sie sich immer gewünscht. Wie viel sie von diesem Geschenk hatte, weiß niemand anders als ihre Eltern.

Die Ferien waren zu Ende und langsam kehrten alle wieder ins Heim zurück. Schulvorbereitungen, plaudern,......  all die Dinge, die man so tut, wenn der Urlaub vorbei ist. Montag früh ging es ja schließlich wieder in die Schule. In Gedanken war ich allerdings noch bei Michael. In den Ferien hatten wir endlich mal richtig füreinander Zeit. Da blieb trotz der schönen Erinnerungen noch immer ein bitterer Nachgeschmack. Denn viel Zeit miteinander verbringen, bedeutet gleichermaßen sich auch mit Problemen auseinander zu setzen. Nichtigkeiten waren Anlass zu Streit gewesen und noch immer hatte ich das Gefühl, dass etwas noch nicht gesagt worden war. Doreen war wie schon so oft nach der Rückkehr von ihren „Eltern“ schweigsam. Irgendwann hatte ich es aufgegeben, sie nach dieser Familie auszufragen. Wenn sie es mir nicht erzählen wollte, musste ich damit leben. Wichtig war doch nur, dass sie es dort gut hatte und das war offensichtlich der Fall.

Ich weiß nicht, ob es in der zweiten oder in der dritten Septemberwoche war, aber mit einiger Sicherheit meine ich, es wäre ein Mittwoch gewesen, an dem ich aus der Schule ins Heim kam und meine Schwester dort nicht mehr vorfinden konnte. Kaum dass ich Mittag gegessen hatte, wurde ich zur Heimleiterin gerufen. Das war in sofern nichts schlimmes, weil ich dort immer mal antanzen musste, wenn ich ihrer Meinung nach etwas angestellt hatte. Unüblich war der Empfang im „Vorzimmer“, da ich sonst ins Chefzimmer zitiert wurde. In kurzen knappen Sätzen teilte sie mir dann mit, dass Doreen jetzt für immer in einer anderen Familie ist. Sie wurde adoptiert und ich sollte von nun an keinen Kontakt mehr zu ihr haben.
Rumms, das saß aber. Ich hatte nicht wirklich begriffen, in welchem Film ich grad die Hauptrolle spielte und welche Konsequenzen sich dahinter verbargen. Ich konnte mich nicht einmal von ihr verabschieden. Alles was blieb waren Tränen, Erinnerungen und ein lapidares Versprechen, wenn ich 18 wäre, könnte ich vielleicht wieder Kontakt zu ihr aufbauen. Heute bin ich selbst Mutter zweier Kinder, aber der Schmerz hätte nicht größer sein können, als wenn man einer Mutter ihre Kinder nimmt. Alles wofür ich gekämpft hatte, alles woran ich geglaubt hatte, alles worauf ich gehofft hatte, wurde genau in diesem Moment zerstört.

Für mich begann eine sehr schlimme Zeit, da zum Verlust von Doreen auch noch der Verlust meiner großen Liebe Michael kam. Ich kam mir vor, als wenn einer den Boden unter mir weg gezogen hätte. Zu meinem eigenen Nachteil geriet ich in eine Phase mit Medikamenten, Alkohol und Zigaretten, Ärger mit der Polizei und Leistungsabfall in der Schule. Ich war in der 10.Klasse und war im Begriff, meine ganze Lebensplanung aufs Spiel zu setzen. Schon in der 9.Klasse hatte ich mich in Altenburg beworben, um ein Studium zum Heimerzieher nach Schulende zu beginnen. Meine schulischen Leistungen waren bisher recht gut und so hatte ich bereits eine Zusage erhalten, die nun zu kippen drohte. Der Wunsch, mehr für ein Kind im Heim zu sein als Beaufsichtigungspersonal entstand an dem Tag, an dem ich Doreen das erste Mal weinend in Kobitzschwalde zurück lassen musste. Ich habe selbst die Stätten des Jugendamtes durchlaufen, habe viel Elend gesehen und erlebt und hatte den Wunsch, es später alles einmal besser zu machen. Irgendwann bekam ich die Kurve wieder, nicht zuletzt durch eine kräftige Kopfwäsche meiner nun vergangenen „Schwiegermutter“ und Christine, die in meinem letzten Schuljahr nicht nur meine Mathe- und Kunstlehrerin war, sondern nun auch noch meine Klassenlehrerin. Meine Leistungen stabilisierten sich wieder und ich beendete die 10.Klasse mit einem „Sehr gut“.