1984 – Das Jahr, dass alles anders werden ließ. 

Die Zustände zu Hause, an die wir uns alle gewöhnt hatten, weil wir es gar nicht anders kannten, hatten sich irgendwann auch bis zum Jugendamt herum gesprochen. Und es kam, wie es kommen musste. 

Eine Eigenart, die mir bis heute erhalten geblieben ist, ist meine Ordnung. Meine Ordnung, wie schon gesagt. So nach und nach entsteht bei mir ein großes Chaos, es bedarf langer Zeit, bis ich selbst nichts mehr finden kann. Und irgendwann überfällt es mich und ich räume auf. Aber dann darf nirgendwo mehr ein Staubkorn zu sehen sein. Und genau dieser Zustand trat im Frühjahr dieses Jahres ein.

Ausgerechnet am nächsten Tag stand eine Dame vom Jugendamt vor der Tür. Sie meinte, sie wolle sich mal ein Bild von unseren Wohnverhältnissen machen. Na dann mal immer rein in die gute Stube. Ich glaube, diese Dame  hat mit Sicherheit solche Wohnungen schon öfters besucht, denn allzu geschockt schien sie mir nicht. Sie wurde durchs ganze Haus geführt, aber ich meine, hat man ein Zimmer gesehen, hat man alle Zimmer gesehen. Ihr Zettel füllte sich mit Notizen und dabei wurden weder die Haufen dreckiger Wäsche noch der speckige Fußboden vergessen. Erstaunt, ja fast erschrocken hat sie sich wohl bei der Besichtigung des letzten Zimmers oder sollte ich besser sagen der letzten Kammer. Es war nämlich jene, die ich und Doreen bewohnten. Die Dame mochte kaum glauben, dass es in diesem Haus ein einziges Zimmer gab, dass sauber war. Als sie ging, sagte sie, wir würden von ihr hören.

Das taten wir auch recht bald. Ein Schreiben der Behörde wurde uns zugestellt, indem es hieß, die Lebensumstände wären untragbar und man müsse Doreen und Thomas in ein Vorschulheim einweisen. Und so waren wir im Mai des besagten Jahres nur noch drei Kinder. Und so wurden wir recht bald weniger. Im Juni kam die Einweisung für Udo in ein Heim für Schwererziehbare, so nannte man das damals, im Juli die Einweisung für Roy, die sofort von Mutter zerrissen wurde und sie sich standhaft weigerte, ihn irgendwo hinzubringen. Mich hatte man wohl so lange verschont, weil man anfangs meinte, ich falle sowieso aus dem Rahmen und das wäre nicht nötig. Später überlegten sie es sich dann doch anders und auch für mich hieß es Einweisung in das Hanno- Günther- Heim nach Glauchau. Am 27. August sollte mich Mutter im Heim abliefern, was sie natürlich nicht tat.

Keine zwei Tage später stand die Dame vom Jugendamt abermals vor der Tür, und bettelte geradezu darum, dass ich ins Heim kam und das dies doch das beste für mich wäre, damit mal aus mir noch was wird. Das Ganze spielte sich, wie es sich für unsere Familie gehörte, vor der Haustür ab und ich war mit dabei. Mir tat die Frau schon richtig leid und ich bat Mutter, dass sie mich ins Heim bringt. Nur hatte ich den Sinn und Zweck nicht ganz begriffen. Ich war der Meinung, dass es schon fast ein Abenteuer sein muss, etwas Spannendes, nicht aber, dass ich dort meine nächsten Jahre zubringen würde.

Bekleidet mit einem roten Kleid, was meiner Großmutter sicher gut gestanden hätte und Schnürsandalen, ich glaube man nennt sie Römer, stieg ich am Vormittag des 31. Augustes mit Mutter zusammen in den Bus, der mich weg brachte, von allem was ich bisher kannte.

Die Erinnerungen an diesen Tag sind noch so frisch, als wären sie erst gestern gewesen, wohl auch, weil sie mit sehr negativen Dingen gefüllt wurden. Nach einer Art Vorstellungsgespräch bei der Heimleiterin Frau P. wurde ich in die Gruppe gebracht, die ab nun so eine Art Familie für mich werden sollte. Da stand ich nun an der Tür und wurde wie im Zirkus als Attraktion beklotzt. 3 Erzieher und über zehn Kinder im Alter von 8-14 Jahren starrten mich an, während ich vorgestellt wurde. Alle Kinder saßen an Tischen und schrieben irgendwas, hatten Schulsachen herumliegen. Aber es waren doch noch Ferien!

Mir wurde ein Platz zugeordnet in der Klassenstufe, die ich besuchen würde. Man gab mir ebenfalls ein Heft und ich durfte gleich beginnen, mit den anderen das Datum im Hausaufgabenheft für ein ganzes Schuljahr vorzutragen. Ich hatte gerade die erste Woche fertig, der Samstag war mein Geburtstag, da stand die Gruppenleiterin Frau H. neben mir und sagte:“ Solche Hieroglyphen sind hier nicht modern.“ Das war der erste Satz den ich zu hören bekam und der das erste Mal an mich gerichtet war. Nicht etwa ein freundliches „Guten Tag“ oder „Herzlich Willkommen“, nein dieser Satz war alles, was ich zu hören bekam.

Langsam bekam ich eine Ahnung, auf was ich mich hier eingelassen hatte. Noch am ersten Tag hatte ich bereut, was ich noch einen Tag zuvor als spannend empfand. Man musste sich doch nur einmal umsehen, um zu wissen, wo man gelandet war. Türen wurden stets verschlossen gehalten, die ganze untere Etage war mit Gittern verhangen. Und dieses Gefühl, eingesperrt zu sein, wurde immer mehr, je länger man dort wohnte.

Um den Alltag zu erleichtern, bekamen wir von der Kleiderkammer eine Nummer. Meine war die 28, wohl deshalb, weil es gerade ein paar Klamotten gab, die in meiner Größe da waren. Und die ersten Anziehsachen, die ich noch am Tag meiner Einweisung bekam, waren nicht besser oder schlechter, als die, mit denen ich gekommen war.

Die Eingewöhnungszeit war kaum problematisch, wohl auch, weil ich drei Wochen danach zur Kur nach Wiek fuhr, die mir noch vor der Heimzeit genehmigt worden war.

Die Zeit bis Weihnachten war wenig ereignisreich, durfte ich weder nach Hause, noch meine Schwester besuchen oder gar überhaupt großartig einen Schritt vor die Tür setzen, es sei denn, wir gingen zur Schule. Man hatte sich auch etwas angefreundet mit denen, die das gleiche Alter hatten. In der Schule war man das Heimkind und außer einer richtigen Freundschaft, gab es nicht viel, was man nicht auch im Heim tun konnte. Am Wochenende, wenn die meisten eine Beurlaubung bekamen, blieb ich im Haus. Was sollte ich auch sonst schon tun. Man kannte ja niemanden weiter, zu den man hätte gehen können. Und selbst wenn ich das gewollt hätte, hätte man mich sowieso nicht gehen lassen. Schließlich war ich erst 13 Jahre alt.